Es war Sommer, ich war … egal. Draußen jedenfalls 32° C und knalliger Sonnenschein. Endlich ist das Wetter da, wo wir es seit Monaten haben wollen. Und wo bin ich?
Ich hocke seit Stunden mit drei anderen mehr oder minder Freiwilligen in einem Schreibseminar aka Schreibwerkstatt: wie bekomme ich die potentiellen Leser dahin, dass sie meine Beiträge lesen?
Nach lockerem Einstieg dank des netten Referenten häufen sich die Irritationen: ich kann doch schreiben … dachte ich …
Erkenntnis 1: trotz jahrelanger Praxis schleichen sich immer wieder Macken in meine Texte, schludrige Formulierungen, die nicht ganz den Punkt treffen, oder Jargon, mit dem ich scheinbar mein Fachwissen unter Beweis stellen will. Längst nicht alles, was ich mir jetzt nachträglich anschaue, würde ich so nochmal veröffentlichen.
Erkenntnis 2 – eigentlich schon im Vorfeld: es gibt sie, diese Texte zum Niederknien, die mich direkt anspringen, die mich in die Seite oder den Artikel oder das Buch hineinziehen, egal was gerade drum herum los ist. Geht das anderen auch so? Bei mancher Lektüre nervt der ganze ICE-Großraumwagen, bei anderen Texten ist die Umgebung dagegen wie ausgeblendet.
Erkenntnis 3: ich bin plötzlich wie blockiert – die Worte, die sonst mehr (Glosse) oder minder (Handbuchbeiträge) zügig auf den Bildschirm purzeln, wollen nicht kommen. Irgendwie stimmt auf einmal keine Formulierung mehr so richtig. Und diese Nomina … das muss doch irgendwie aktiver, mit stärkeren Verben gehen.
Erkenntnis 4: Von der Einsicht in kluge, wegweisende Tipps für einen ausdrucksstarken schriftlichen Stil zu deren Beherzigung für lesbare und ansprechende Texte ist es manchmal ein schrecklich weiter und anstrengender Weg. Aber weniger ist ja bekanntlich mehr … gilt tatsächlich auch für Adjektive.
Erkenntnis 5: Mir geht’s wie meinen Studentinnen – darf ich wirklich meine Meinung schreiben, gar in Ich-Form? Dürfen? Müssen! Ohne aktive Subjekte werden wir alle nur noch zu Opfern – und die Urheber bleiben im Dunkeln des Satzbaus.
Erkenntnis 6: Die knackig-kurzen Kernaussagen sind gut, aber leider in Reihung langweilig. Die wirkliche Kunst besteht darin, einen Rhythmus zu schaffen mit längeren und kürzeren Sätzen. Uneinheitlichkeit bringt szenische Effekte in den Text!
Erkenntnis 7: Schreiben hilft, Gedanken aufzuräumen. Weiß ich eigentlich auch, deswegen beginnen ja viele Vorträge und Texte mit einer Mindmap. Aber dass ich nun meine Lieblings-Satzzeichen Klammer und Halbgeviertstrich nicht mehr verwenden soll, mit denen sich so prima Schachtelsätze bauen ließen – irgendwie muss ja die Komplexität meiner Gedanken zu Papier gebracht werden (und vor allem der implizite Hinweis darauf, dass ich so viele Zusammenhänge sehen kann) – das ist schon schade. Andererseits ist logische Sortierung was Feines, nicht nur für Buchhalter und Dokumentare: first things first; Hautsachen in Hauptsätze …
Erkenntnis 8: Erinnerungen an manche Kommunikationstrainings werden wach – lerne die Regeln, um sie irgendwann vergessen und einfach klar kommunizieren zu können. Und die tröstenden Worte eines Trainers nach einem Gruppendynamik-Wochenende: „Machen Sie sich keine Sorgen, in spätestens zwei bis drei Wochen können Sie wieder völlig normal mit anderen Menschen kommunizieren.“ Na dann …
Erkenntnis 9: Lerne die Regeln, liebe sie … verdammt noch mal! Aber zugleich tröstend: auch die Großen verstoßen manchmal dagegen, produzieren schiefe Bilder und irritierende statt erhellende Formulierungen.
Erkenntnis 10: Ja, Schreiben ist harte Arbeit. Aber anders kann ich meine Botschaften nicht klar kommunizieren. Und: ich muss da durch, wenn ich die ganz hohe Kunst schaffen will: Learn the rules, so you know how to break them properly. Soll der Dalai Lama gesagt haben, kann aber auch für Texte und Layout gelten. Sagt jedenfalls David Carson. Auch so eine Art Papst, aber für Layout und Design.
Aber das ist wieder ein anderes Thema. Vielleicht für den Winter, wenn das verlockende Wetter wieder woanders ist.