Quantified Self: Vermessenes Ich


„Selbstoptimierung“, „Effizienzsteigerung“ und „Selbstmanagement“ – Krankheiten der Moderne? Mein „Play-Store“ offeriert mir hunderte von Apps, die diese Etiketten tragen. Ein Plus an Kontrolle über meinen Körper, meine Zeiteinteilung und alltägliche Aufgaben? Warum eigentlich (nicht)?

 Der Geist ist willig … (Mt 26,41)
„Feels like the world was on my shoulders“ singt mir Elayna Boyton um 06:00 Uhr ins Ohr. Ich schnüre meine Joggingschuhe zu und befestige umständlich mein Smartphone an meinem Arm. Nur noch eben das Runtastic-Programm starten. Die Pro-Version. Ja, ich möchte Bluetooth aktivieren. Mein neuestes Spielzeug, der Bluetooth-Pulsmesser, sitzt. GPS – läuft. Ob meine Freunde mich via „Livetracking“ beim Laufen begleiten sollen? Meine Freunde schlafen um 06:00 Uhr noch! Dann übernimmt Runtastic eben die Motivation: „Pulsbereich 1“, das entspricht dem Anfängergrad. Durchatmen, das Programm weiß es nicht besser zu honorieren, dass ich so früh aufgestanden bin, um bereits um diese Uhrzeit wichtige Körperdaten zu erheben: Schnelligkeit (in Minute/km),  Herzfrequenz und Kalorienverbrauch.

Km 1, 7:15 min, 82 kcal, Puls 139
Ich entscheide mich noch vor dem Erreichen der Theodor-Heuss-Brücke einen Podcast anzumachen und wähle David Foster Wallace und seine Abschlussrede „This is water“. Er spricht über den alltäglichen Autopilotmodus und Selbstoptimierungswahn: „Jeder betet etwas an. Aber wir können wählen, was wir anbeten. Wenn Sie Ihren Intellekt anbeten und als schlau gelten wollen, werden Sie sich am Ende dumm vorkommen, …“ Herrgott, Runtastic unterbricht inmitten dieser wichtigen Stelle: „1 km, 7:15, 82 kcal, Puls 139“. Ich denke „Da geht noch was!“ im Hinblick auf die Geschwindigkeit, während David Foster unbeirrt weitermacht „…, wenn Sie Ihren Körper, die Schönheit und erotische Reize anbeten, dann werden Sie sich immer hässlich finden.“

Km 2, 14:03 min, 168 kcal, Puls 150
Ganz schön unangenehm.Betroffen wechsle ich schnell zu Musik. „anaerober Pulsbereich“. Ich drossele mein Tempo ein wenig. Mir kommt ein Jogger entgegen, sein Blick streift meine Hightech-Ausstattung. Bilde ich mir sein kurzes Kopfschütteln nur ein? Dabei müsste er doch längt wissen, dass die Vermessung des Körpers nun längst im Mainstream verankert ist.

Km 3, 20:58 min, 258 kcal, Puls 139
Ob die Musik oder das Programm meine Laune hebt, ich weiß es nicht. Ich versuche mich ein wenig an Intervalltraining und bekomme präzise die Schwankungen meines Pulses mitgeteilt. Eine tolle Funktion der Pro-Version. Meine Motivation läuft auf Hochtouren. Vielleicht ist der Frankfurt-Marathon im Oktober doch kein zu ehrgeiziges Ziel?

Km 4, 5 oder 6? Kein GPS-Signal, Puls vorhanden
Runtastic unterbricht meine Gedanken: „GPS-Signal verloren.“ Vorbei mit dem Intervalltraining und den Zukunftsplänen – aber halt: kenne ich die Strecke nicht eindeutig besser als das Programm? Sicherlich. Ich schalte die Musik ab, um meinen Atem und meine Umgebung wahrnehmen zu können.

Km 5, 6, 7: mittelmäßig schnell, Kalorien verbrannt, Pulsbereich 2
Ohne Musik in den Ohren nehme ich das Vogelzwitschern wahr. Ein Zug rollt auf der Eisenbahnbrücke an mir vorbei, es ist die S-Bahn nach Frankfurt. Überall auf der Brücke hängen kleine Schlösser mit Eingravierungen. Meine Schritte klingen bleiern auf der Mitte der Brücke. Ich übergehe den aufkommenden Wunsch diese Postkartenlandschaft sofort mit meiner Smartphone-Kamera zu fotografieren und beschränke mich auf bloßes Betrachten: Ein breites Grinsen zeichnet sich jetzt auf meinem Gesicht ab, Mainz sieht im schwachen Dunst nun deutlich verschlafener aus als ich.
Km 8,9: 56:05 min, 540 kcal, Puls 137
Frau Selbstoptimierung meldet sich wieder und fasst meine „verlorenen Kilometer“ zusammen: 8,9km, 56:05 min, 540 kcal, Puls 137. Ich werde aufgefordert eine subjektive Bewertung meines Runs mithilfe von Smileys abzugeben. Ob ich meine Ergebnisse auf Facebook & Twitter hochladen will? Warum eigentlich nicht, interessiert meine 250 Freunde sicherlich brennend. „Rolf gefällt das.“ Nanu, ist er denn um kurz vor sieben schon oder noch wach? Er schreibt, er werde nun auch loslaufen, mal sehen, ob er schneller sei als ich. Ich schüttele lachend den Kopf.

Ob nun Joggen mit oder ohne besser ist und ob Runtastic mir mehr Kontrolle über meinen Körper verschafft? Ich weiß darauf keine abschließende Antwort. Was ich weiß ist: Ich kann mich nicht ganz von der Faszination der Messbarkeit meiner Körperwerte lösen. Gleichzeitig spüre ich Widerstand gegen Funktionalisierung und Inszenierung in Bereichen meines Lebens, die ich eigentlich meiner Freizeit zuordne.


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